Soziale Folgen des Kapitalismus in der Corona-Krise – Eine marxistische Perspektive auf Exitstrategien aus dem neoliberalen Dogma in Zeiten von Corona

An Superlativen mangelt es der aktuellen Situation definitiv nicht. Von der größten Rezession seit der Großen Depression von 1929 ist da die Rede. Oder von der größten Herausforderung für die Weltgemeinschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. Eindeutig wird hier versucht, die für unsere Demokratien beispiellosen Grundrechtsbeschränkungen zu legitimieren. Die Langzeitfolgen eines solchen Dauerstresses für die Bevölkerung sind kaum absehbar und darum soll es heute gehen. Der Neoliberalismus der vergangenen 40 Jahre hat Privatisierungen propagiert und in den angelsächsischen Ländern, wo er besonders erfolgreich war, ist jetzt der Gesundheitssektor entsprechend geschwächt. Die Bilder aus New York, dem nordamerikanischen Epizentrum der Pandemie, sind gespenstisch und kein Katastrophenfilm konnte uns Nachkriegsgenerationen darauf vorbereiten.

Die sozialen Folgen des Kapitalismus in der Krise

Bemerkenswert ist, dass die apokalyptischsten aller Nachrichten die Wirtschaft betreffen: Der IWF prognostiziert die größte Rezession seit der Großen Depression von 1929. Kein Wort wird dabei zur sozialen „Apokalypse“ verloren, die uns bevorstehen kann, wenn ganze Familien massiv dezimiert werden von diesem gnadenlosen Feind, für den man aber niemanden verantwortlich machen kann. Auch wenn Donald Trump verzweifelt versucht, das Virus China in die Schuhe zu schieben. Kein Wort darüber, was dauerhaftes Home-Office und keine Möglichkeit, soziale Kontakte abseits des Bildschirms haben zu können, mit Individuen anrichtet. Für viele Eltern stellt sich gerade die Frage, wie sie ihre Kinder in dieser außergewöhnlichen Situation beschäftigen sollen. Dann sitzen die Kleinen eben mit im Videoanruf bei der Arbeit und lernen die Kolleg:innen kennen oder die Netflix-Kinderecke auswendig. Ebenso wichtig ist der Blick auf jene, deren Job kein Home-Office zulässt, sei es im Handwerk, Einzelhandel oder selbstverständlich im Gesundheitssektor.

Was zählt im Kapitalismus, sind Zahlen. Das trifft vor allem die, deren Vorgesetzte gar keine Pandemie sehen, sondern Hysterie oder aus Angst vor einbrechendem Umsatz weiterarbeiten lassen. Hier wird wie auch in der Vorkrisenzeit viel zu oft Profit über Gesundheit gestellt. Was ist aber im Umkehrschluss mit jenen, die bereits vor der Krise arbeitslos waren und deren Suche nach einer neuen Anstellung nun so gut wie aussichtslos ist? Der soziale Druck auf diese Menschen steigert sich ins Unermessliche. Und wer bereits jetzt an Depressionen oder Suchterkrankungen leidet, wird durch die soziale Isolation sicher nicht gesünder.

Die Ideologie der Selbstoptimierung & der Neoliberalismus

Eine Perspektive, die mich besonders stört, ist der neuerliche Fokus auf Selbstoptimierung in den Sozialen Medien, den ich auch in meinem persönlichen Umfeld beobachten konnte. Da wird gefragt, was man nun mit der neu gewonnen Freizeit durch Kurzarbeit oder Home-Office anstelle. Welche Sprachen man lernen wolle, was für Rezepte oder Yoga-Posen man neu ausprobiere und welchen Streaming-Anbieter man gerade gekündigt habe, um sich wieder mehr zu spüren. Ein derart privilegiertes Gerede angesichts einer so weitreichenden Krise für unser Gemeinwesen macht mich regelrecht wütend. Klar, wer keine Kinder zu versorgen hat, mental und körperlich gesund ist, ein sicheres Einkommen und ausreichend Wohnraum zur Verfügung hat, muss sich auch jetzt nicht wirklich mit den Sorgen der großen Mehrheit solidarisieren. Aber kann man das nicht bitte leise tun? Und um es nochmal zu sagen: Unproduktiv zu sein, ist keine Schande. Wir alle haben ein Recht auf Faulheit.

Hier tritt ein Egoismus hervor, wo eigentlich Empathie für Andere nötig wäre und der mehr als nur anerzogen ist. In meinen Augen zeigt sich hier besonders deutlich, wie sehr die Selbstoptimierungsdoktrin der kapitalistischen Ideologie unsere Gesellschaft durchdrungen hat. Meine Generation, die sogenannten „Millenials“ haben nie bewusst einen Systemwechsel mitgemacht. Für sie ist der Kapitalismus im besten Wortsinne alternativlos. Dabei sollte doch gerade jetzt die Zeit für Experimente sein. Wann, wenn nicht jetzt, wo eh alles auf Null gesetzt wird? Ich möchte hier nicht wie ein Krisenprofiteur klingen und habe gerade keine sozialen Folgen aufgezählt, um jetzt marxistische Großtheorien anzulegen, doch muss die Frage erlaubt sein, wie es soweit kommen konnte, dass Unternehmen derart knapp kalkulieren konnten, dass in den USA binnen weniger Wochen 30 Millionen Arbeitslose zu verzeichnen sind und wir auch in Europa viele Jobs nur mit extrem hohen staatlichen Investitionen werden retten können. Das zeigt, dass aus der Weltwirtschaftskrise von 2008/09 genau eines gelernt wurde: Wenn es brenzlig wird, springt der Staat ein und rettet „systemrelevante“ Privatunternehmen mit Steuergeldern. Rücklagen sind was für Loser! Mittlerweile werden diese wenigstens auch für Kurzarbeitsgeld oder Kleinbetriebe in die Hand genommen, aber ein Wirtschaften Spitz auf Knopf wie in den letzten Jahrzehnten darf es nicht mehr geben.

Stattdessen muss der Weg in nachhaltigere Wirtschaftsformen und zurück zu Staatsbeteiligungen in wirklich systemrelevanten Bereichen wie im Gesundheitssektor, der Energieversorgung oder der Mobilität führen. Jetzt ist der Moment, wo die neoliberale Tabula Rasa, die Entfesselung der Marktkräfte in den 1980er und 90er Jahren, zurückgenommen werden muss, damit das gesamte System beim nächsten Mal deutlich resilienter auf einen solchen Schock reagieren kann. Es zeigt sich bereits, dass die Länder, die sich zumindest eine gewisse staatliche Hoheit über die Wirtschaft bewahrt haben, wie etwa die Bundesrepublik, die Krise wesentlich besser handzuhaben scheinen. Es muss also noch weiter in Richtung staatlicher Eingriffe gegangen werden. Der Markt, soviel ist jetzt sicher, regelt es nämlich nicht. Auch wenn das Ziel linker Politik immer ein Ende des Kapitalismus sein muss, belasse ich es an dieser Stelle dabei.

Die Chancen der Digitalisierung: weniger Kapitalismus & mehr Solidarität

Ich möchte den Blick noch einmal darauf lenken, dass selbst die technikfeindlichsten Menschen wohl anerkennen müssen, dass die sozialen Folgen durch die Digitalisierung zumindest in einer begrenzten Weise abgefedert werden können. Allerorten wird nun videotelefoniert und Streaminganbieter erfahren neue Nutzer:innenrekorde. Noch nie war es so einfach, sich allein zuhause zu unterhalten und mit den Liebsten auch über weite Entfernungen in Kontakt zu bleiben. Auch wird plötzlich infrage gestellt, ob jedes Meeting, für das gestern noch Fernreisen im Flugzeug gemacht wurden oder jede Großveranstaltung notwendig sind, während Behörden und Großunternehmen, die bisher die Digitalisierung weitgehend verschlafen hatten, plötzlich digitale Services anbieten, von denen noch vor wenigen Monaten nur geträumt werden konnte.

Das stimmt zumindest etwas optimistisch, dass aus dieser Krise vielleicht auch positive Effekte entstehen können. Vor allem besinnen sich aber gerade sehr viele Menschen auf das, was wesentlich ist: ihre sozialen Beziehungen, die zuvor womöglich durch zu viel Arbeit und Dauerstress in der kapitalistischen Erwerbsgesellschaft auf der Strecke blieben. Sei es in der eigenen Familie oder mit entfernt lebenden Freund:innen. Der Vorteil, wenn man es denn so nennen will, an einer globalen Pandemie ist, dass alle Menschen betroffen sind und Empathie und Solidarität somit wesentlich leichter tragen als die Schuldzuweisungen Donald Trumps.

Doch bis es soweit ist und die Möglichkeit auf eine bessere Zukunft mit weniger Kapitalismus und mehr Solidarität in Sicht kommt, müssen wir uns zunächst durch diese Krise manövrieren. Ich wünsche allen Lesenden dabei Kraft und Ausdauer, aber vor allem natürlich: Gesundheit.